Seiten

Montag, 25. Mai 2015

Wissen wollen

Einfach aufgeschrieben

Gestern war ich bei meiner Mutter und habe sie über ihr Aufwachsen ausgefragt. Zäh war ich, nicht aggressiv, wissen wollte ich bestimmte Dinge, damit ich mir ein Bild machen kann.
Ich sehe es mittlerweile als nicht sinnvoll an, dass ich noch immer einen ziemlichen Schleim auf meine Mutter habe. Das ihre Vorgangsweisen nicht in Ordnung waren steht dabei außer Zweifel.
Aber gehe ich davon aus, dass die Menschen auf die Verletzungen aus der Kindheit unter anderem mit Schutzabwehr reagieren, ist es für mich eine logische Folgerung, dass meine Mutter kein warmherziges und glückliches Aufwachsen hatte und sie deshalb so ist wie sie ist.
 Und Abgründe gibt es in dieser Familie genug.

 Mein Großvater war vor der Beziehung mit der Großmutter mit einer Kellnerin zusammen und daraus gab es 1928 einen Buben. Die Beziehung hielt aber nicht, weil immer wieder andere Männer im Spiel waren. Als der Junge zwei Jahre alt war, heiratete der Großvater 1930 meine Großmutter. Die Ehe blieb drei Jahre kinderlos und der Großvater bat seine Frau, dass sein lediger Junge zu ihnen kommen kann, er hätte gerne einen Nachfolger für das Ofensetzergeschäft, dass er sich gerade aufbaute. Die Großmutter erklärte sich damit einverstanden, also kam der Junge im Alter von 4 Jahren in diese Familie. Zwei Jahre später, 1933, gebar die Großmutter ein eigenes Kind, meine Mutter.
Bis 1943 lebten sie in einer Mietwohnung. Der Großvater hatte das Glück erst 1943 in den Krieg einrücken zu müssen, weil er der einzige Feuerwehrkommandant in dem Märktle war.
Der Junge war damals 15 Jahre und das Mädchen, meine Mutter, war 10 Jahre alt. 
Ich habe sie nach dem Jungen gefragt. Sie wich aus, wollte nicht darüber sprechen. Meine ruhige Beharrlichkeit und das Interesse verführte sie dann doch zu Auskünften. 
Im Laufe des Gespä
rächs über den Halbbruder bekam sie vor Aggression fast Schaum vor den Mund als sie über den Jungen erzählte. Ein Dieb war er, schon als Junge, ein Lügner, der dir geradewegs ins Gesicht log, ein Zuchthäusler ist er gewesen, unstet war er.
Ihr Vater habe alles für den Jungen gemacht, aber er hat ihn immer nur betrogen. Fliesen und Öfen habe er in der Nacht aus dem Lager geschafft und zu Geld gemacht. Seine Freunde habe er damit ausgehalten. Seine letzte Aktion bevor es zum Bruch kam, war dass er zum Geburtstag, mit 18 Jahren, vom Vater ein Motorrad geschenkt bekommen hat. Was er damit gemacht hat, fragte sie mich. Tja, das kann ich leicht erraten. Er hat die Maschine verkauft und dem Großvater einen Zettel hinterlassen, auf dem er geschrieben hat, dass er nie ein Hafnermeister werden wird, der Vater die kleine Firma der Tochter geben sollte und er jetzt abhaut. Das muss eine heftige Sache gewesen sein. eine Enttäuschung bis zum geht nicht mehr.
Der Vater hat die Maschine dann wieder zurückgekauft und für seinen Lehrling verwendet.
Einige Jahre später hat ihn die Polizei um die Identifizierung des Sohnes gebeten. Er sah ihn im gestreiften Sträflingsgewand mit großer Nummer drauf, kam dann nach Hause und sagte er habe ab heute keinen Sohn mehr, nur mehr eine Tochter.

Eine harte Sache. Für mich sind es zum einen die Gene, die die Grundlage der Persönlichkeit ausmachen und zum anderen die seelischen Wunden, die den weiteren Lebensweg bestimmen.
Natürlich habe ich Vorstellungen, wie der Bub als lediger Balg aufgewachsen sein könnte, aber dabei war ich nicht.

Aus den Geschichten geht ganz klar hervor, dass mein Großvater ein sehr warmherziger und liebevoller Mensch war.
Die Mutter von ihr, meine Großmutter, muss ein harter Knochen gewesen sein. Aber auch bei deren Aufwachsen wird es genug an Verletzungen oder Misshandlungen geben haben. Es ist auch nicht zu vergessen, dass wir von 1914 bis 1918 einen Krieg hatten und zu Hause warteten 13 Kinder die gefüttert werden wollten.

Aber wieder zurück in die nähere Vergangenheit zu meiner Mutter und ihrer Mutter.
Nach meiner Hartnäckigkeit meinte meine Mutter: „Sie hatte nichts zu lachen bei ihrer Mutter. Sie hatte ihr nichts geschenkt. Arbeiten musste sie bis zum Umfallen.“
Nach meinem Einwurf, dass sie wohl keine glückliche Kindheit hatte, widersprach sie vehement und dass sie eine sehr glückliche Kindheit hatte. Und wieder sprach sie im selben Atemzug, dass ihr Vater, mein Großvater, ein sehr feiner Mensch war. Da kenne ich mich aus, mehr braucht sie nicht zu sagen. Ich sehe den verhärmten Gesichtsausdruck und mir ist die Sachlage klar.

Dann ist sie mit Fotos von ihrem heißgeliebten Vater gekommen. Die, die er nach dem Krieg von 1938 bis 1945 immer im Geldbörsel hatte. Von seiner Zeit bei der Feuerwehr, von seinem Kriegseinsatz in Griechenland und last but noch least von mir als Baby auf seinem Arm.
Oh du heilige Göttin, meine Mutter blickte das letzte Bild mit Neid und Mißgunst an, „ … überall hat er dich mithingeschleppt …“



Und ausserdem sehe ich ihm aus dem Gesicht geschnitten ähnlich und ich sag mal auch das Wesen ist vererbt und dann von ihm gehegt worden. Bedauerlich, dass es nur zwei 
Jahre waren. Und sehe ich mich heute, weiß ich dass alles in Ordnung sein wird.
Ich arbeitete die Geschichte von meinem Vater auf und jetzt arbeite ich die Geschichte meiner Mutter und deren Familie auf. Ich weine, ich spüre den Schmerz, ich schwitze, ich rolle mich unter der Bettdecke ein und weine bis ich kotzen muss. In mir tauchen Erinnerungen auf, mein Körper und meine Seele erlebt Verletzungen von damals wieder. Ich lasse es zu und deute es nicht um, da ich den Eindruck habe, dass der Schmerz durchlebt werden will. Ich tauche immer wieder auf.  

Da sie schon viele Fotos meines Großvaters gehäckselt hat und mir dass sehr stolz erzählte (die Frau ist trotzdem noch hell auf der Matte), habe ich die Fotos von gestern eingezogen. Sie wollte sie mir nicht geben, gekämpft hat sie darum, ich bekomme sie ja eh, wenn sie gestorben ist. Nur weiß man das nie, sie lebt alleine und man weiß nicht was ihr so alles einfällt. Und dass sie mir vom Großvater nichts hinterlassen möchte, denn dass ist ihrer, ist für mich auch klar. Also habe ich in aller Ruhe und Autorität die Fotos behalten.

Es ist mir auch klar geworden, dass es für eine Aufarbeitung der familiären Situationen ein gehöriges Maß an Bewusstsein braucht. Das kann ich mitbringen, weil ich mich viel mit mir und meinem Umfeld beschäftigt habe, aber von meiner Mutter kann ich das nicht verlangen (ein schlechtes Gewissen hat sie in manchen Dingen).
Alleine der Schmerz über das eigene Leiden kann für die Seele zu gewaltig sein.
Und mir geht es darum, dass ich sehe das die Eltern verletzte Kinder waren, das die Großeltern schon verletzte Kinder waren und so fort.
Was will ich böse sein auf sie und den Haß und die Enttäuschung in mir weiter pflegen. Bringt’s mich weiter. Darauf kann ich mit einem klaren Nein antworten. Es lässt mich auf der Stelle treten und blockiert meinen Lebenssaft. Und aufarbeiten und helfen kann ich mir selbst.



3 Kommentare:

  1. Liebe Ganga,
    zieh einen Schlussstrich. Es bringt nichts Die Zeiten
    sind vorbei. Schau nach vorn - mach es besser als sie.
    Einen schönen Abend wünscht Dir
    Irmi

    AntwortenLöschen
  2. Liebe Irmi,
    im Grunde genommen stimme ich dir zu. Viele Dinge sind alte Kamellen und es nütz nicht, sie ewig und drei Tage aufzuwärmen, wegen dem werden sie auch nicht besser.
    Auch wenn es sich in meinem post vielleicht tragisch anhört, mit welchen Zuständen der Schmerz verbunden ist, gehe ich aus jeder Stunde die ich mir für mich Zeit nehme gestärkt heraus. Gerade weil ich mich nicht im Kummer wälze und mich bedauere und arm finde, sondern weil ich jahrzehntelange Eindrücke aus der Erinnerung hebe, den absolut verschütteten Schmerz suche und finde und Eigenverantwortung zeige.
    Wichtig ist wahrscheinlich wirklich, immer wieder zu prüfen, ob's denn noch weiter mit dem Vorwärts geht oder ob ich mich mal in altem gefangen habe, denn das soll es nicht sein. Die alten Fotos vom Großvater habe ich jetzt in ein Album eingeordnet und sehe sie als die Erinnerungen eines anderen Menschen, der mir viel Gutes getan hat.

    "Schau nach vorn - mach es besser als sie"... Danke Irmi, das werde ich. Und es stimmt ja, auch bei meinem Projekt mit dem inneren Kind ist es unabdingbar Punkte zu setzen. Es soll ja nach vor gehen!!!!!

    Vielen Dank, ich wünsche dir einen schönen tag
    ganga

    AntwortenLöschen
  3. Ich glaube es ist immer gut und richtig die Geschichte der Vorfahren zu kennen. Ihren Lebensweg, die Erfolge und auch etwas von ihrem Schmerz. Nur darf man den nicht auch noch zum eigenen Leid machen, sondern anerkennen und ziehen lassen. Du trägst schon genügend eigene Bürden, wie wir alle, vermutlich. Dennoch ein interessanter Einblick in Deine Familie, für den ich Dir an dieser Stelle danken möchte. <3

    AntwortenLöschen